45 Millionen männliche Küken werden in Deutschland jedes Jahr getötet – ein Verstoß gegen das Tierwohl, hat die Justiz entschieden. Die Politik muss reagieren, doch die Technik dafür ist noch immer nicht marktreif.
Ein Ei gleicht dem anderen. 15.000 passen in Paul Schopfs Brutschrank. Nach 21 Tagen schlüpfen die Küken. Ob es Hennen oder Hähne werden, weiß der Geflügelzüchter aus Velden in Niederbayern erst, wenn sich die Tiere von ihrer Schale befreit haben.
Die Weibchen landen in der Aufzucht, die Hähne in einem blauen Eimer. Deckel drauf, Schlauch rein, dann wird Kohlenstoffdioxid in den Eimer gepumpt. Nach wenigen Sekunden sind die Tiere tot. „Wenn ich darüber nachdenken würde, dann täten sie mir leid“, sagt Paul Schopf.
45 Millionen Küken werden in Deutschland jedes Jahr noch am Schlüpftag getötet, weil sie männlich sind. Obwohl das schon 2017 deutschlandweit verboten werden sollte. Im Koalitionsvertrag haben Union und SPD dieses Ziel dann zwei Jahre nach hinten verschoben. Im Juni 2019 stellte das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig schließlich fest, dass es nicht mit dem Grundgesetz vereinbar ist Küken aus wirtschaftlichen Gründen zu töten.
Möglichst früh, möglichst sanft
Geändert hat sich an der Praxis bislang aber nichts. Umso ehrgeiziger wirkt das aktuelle Ziel von Bundeslandwirtschaftsministerin Julia Klöckner, Deutschland bis 2020 zum weltweiten Vorreiter im Kampf gegen das Kükentöten zu machen. Die Bundesregierung setzt dabei auf die so genannte In-Ovo-Technologie – die Geschlechtsbestimmung im Ei.
Rewe und die EW-Group um die Wiesenhof-Brüder Wesjohann konkurrieren um das erste marktreife Verfahren. Ist es flächendeckend einsetzbar, greift automatisch das Tierwohlgesetz und macht das konventionelle Hühnertöten illegal. An mindestens zwei Universitäten wird an den schonendsten Verfahren geforscht. Alle Tüftler eint ein Ziel: Das Geschlecht der Tiere im Ei soll möglichst früh, möglichst schnell und mit möglichst geringem Aufwand festgestellt werden.
Leuchtende Embryos
„2020? Das ist ja bald“, sagt Landwirt Paul Schopf. Nur aus einem Video kennt er das technische Verfahren der EW-Tochter Agri Advanced Technologies (AAT). Es wird „Spektroskopisches Verfahren“ genannt. Dabei fräst ein Laser am vierten Bruttag eine Öffnung so groß wie ein Fingernagel in die stumpfe Seite des Eis.
Eine Lampe beleuchtet das Innere, je nach Geschlecht des Embryos werden andere Farbspektren des Lichts reflektiert. Eine Maschine verschließt die weiblichen Eier mit einem Klebestreifen. Die männlichen werden aussortiert, getötet und unter anderem zu Tierfutter verarbeitet. Zweieinhalb Wochen später schlüpfen dann nur die künftigen Legehennen.
So weit die Theorie. Doch bislang kann man die Methode nur auf dem Demo-Video verfolgen. Einen Prototypen zum Vorführen habe man noch nicht, heißt es in der Pressestelle von AAT.
Schockgefroren und püriert
Die Rewe-Tochter Seleggt ist weiter: Sie verkauft bereits rund 100.000 „Respeggt-Eier“ pro Woche in eigenen Supermärkten in Berlin. Der Aufkleber „Ohne Kükentöten“ auf diesen Eierkartons bedeutet, dass die Brüder der Legehennen nicht vergast oder geschreddert werden. Schon vor dem Schlüpftag wurden sie aussortiert. Supermarkteier sind grundsätzlich unbefruchtet. Aus ihnen kann kein Küken schlüpfen.
Seleggt arbeitet mit einem so genannten endokrinologischen Verfahren. Bislang wendet nur die eigene Forschungsbrüterei bei Berlin die Technik an. Besichtigen kann man die derzeit nicht. Bei der Methode wird dem Ei am neunten Bruttag ein Tropfen Flüssigkeit entnommen und einem Hormontest unterzogen. Ist das Embryo weiblich, verfärbt sich der entwickelte Test-Marker lila. Die männlichen Eier werden aus dem Brutkasten genommen, schockgefroren, zu Mus püriert und als Tierfutterzusatz verwendet.
Ludger Breloh weiß, dass er weiter ist als die Konkurrenz. „Wir wollen unser Verfahren ab 2020 auf dem ganzen deutschen Markt als Dienstleistung für die Brütereien anbieten“ , sagt Breloh.
Beim Zentralverband der Deutschen Geflügelwirtschaft sieht man solche Prognosen inzwischen skeptisch. „Es standen schon häufiger Termine für eine vermeintliche Praxisreife im Raum“, sagt Verbandssprecherin Christiane von Alemann, „wann es aber tatsächlich so weit ist, kann aktuell keiner sagen.“
„Bisher haben wir keinerlei Infos, nichts gehört, kein Angebot – nichts!“
Paul Schopf
Auch Geflügelbauer Paul Schopf weiß nicht, wann er welches Verfahren auf seinem Hof einführen kann. „Bisher haben wir keinerlei Infos, nichts gehört, kein Angebot – nichts!“ Er ist sich nicht sicher, ob sein kleiner Betrieb sich eines der hochkomplexen Verfahren überhaupt leisten könnte. Seleggt sagt, man plane, die Technik kostenneutral für Brütereien anzubieten. Die Zwischenhändler sollen Lizenzgebühren pro Ei übernehmen. Konkrete Zahlen benennt jedoch keines der Unternehmen.
Paul Schopf hat bisher nur ein Verfahren demonstriert bekommen. Vor gut eineinhalb Jahren sei er einmal eingeladen worden, um sich in Freising bei München eine Forschungstechnik als Präsentation anzuschauen – „eine Röhre, wie im Krankenhaus, nur kleiner.“ Gehört hat er davon nichts mehr.
Neues aus der Abstellkammer
Aus dem Forschungsprojekt der TU München entstand im Jahr 2018 das Unternehmen Orbem. Die Firma sitzt inzwischen im Start Up-Center der TU München in Garching. Dort wird Technik aus der Humanmedizin mit Künstlicher Intelligenz verbunden.
Mit einem MRT-Gerät wie im Krankenhaus scannen die Forschenden die Eier. Ein Algorithmus wertet die Bilder aus und bestimmt so das Geschlecht der Küken im Ei. Das ist bereits am fünften Bruttag möglich. Bis dahin warten die Eier im Brutkasten in einer kleinen Abstellkammer. „Die teilen wir uns mit den anderen Start Ups“, sagt Pedro Gómez, Mitgründer von Orbem.
Nach dem Scan wird den Embryos Blut entnommen, um die Vorhersage des Orbem-Algorithmus zu überprüfen. In einem von vier Fällen liegt er beim Geschlecht falsch. Marktreif ist das noch nicht. Die Quote müsse besser werden, sagt Gómez. „Bis Anfang 2020 wollen wir einen Prototypen bauen, der 150 Eier in der Minute scannt.“
Der Staat muss Tiere schützen
Das wäre eine Weltneuheit: „Wir sind die einzigen, die das Geschlecht im Ei bestimmen können, ohne das Ei überhaupt zu berühren“, erklärt er. Pedro Gómez ist Doktor der Informatik und der medizinischen Bildgebung. Mit dieser Technik ließe sich bereits am Legetag bestimmen, ob das Ei überhaupt befruchtet ist und sich das Ausbrüten lohnt.
Spektroskopie, Endokrinologie oder Magnet-Resonanz-Tomographie: All diese Methoden sollen das Kükentöten überflüssig machen. Doch der deutsche Tierschutzbund argumentiert, dass auch das Töten im Ei für den Tierschutz relevant sein kann. Der ist schon seit dem Jahr 2002 als Staatsziel im Grundgesetz verankert.
Ab dem siebten Bruttag könne nicht mehr garantiert werden, dass das Küken keinen Schmerz empfindet, wenn es im Ei getötet wird, sagt Mareike Petersen, Fachrefeferentin für Tiere in der Landwirtschaft beim Deutschen Tierschutzbund. „Das würde bedeuten, dass das Tier nicht mehr außerhalb des Eis, sondern im Ei leidet“, sagt die studierte Nutztierwissenschaftlerin. Der Tierschutzbund fordert deshalb, dass Verfahren, die das Geschlecht im Ei vor dem siebten Bruttag bestimmen, weiterhin gefördert werden.
Leben für die Suppe
Die Verbraucherschutzorganisation Foodwatch kritisiert die Geschlechtsbestimmung im Ei grundsätzlich. „Das darf nur eine mittelfristige Lösung sein”, sagt Matthias Wolfschmidt von der Nichtregierungsorganisation Foodwatch. Wolfschmidt ist Tierarzt. Er sagt: „Das eigentliche Problem liegt doch in der extremen Spezialisierung auf die Legeleistung der Tiere.“
Jeden Tag ein Ei – das ist die Anforderung an die Legehenne. Nach einem Jahr ist sie ausgelaugt und wird als Suppenhuhn verkauft. Die männlichen Geschwister als Fleischlieferanten zu nutzen, ist nicht vorgesehen. Sie bräuchten bis zur Schlachtreife etwa fünfmal so lange wie herkömmliche Masthähne und würden trotzdem weniger Gewicht ansetzen.
„Das rentiert sich einfach nicht.“
Paul Schopf, GEFLÜGELZÜCHTER
Als Ausweg aus diesem Problem sehen Foodwatch und der Tierschutzbund auf lange Sicht ein modernes Zweinutzungshuhn. Sowohl die Hennen als auch die Hähne sollen für die Lebensmittelproduktion genutzt werden können. Es wäre ein Kompromiss: Die Hennen würden weniger Eier legen und die Hähne würden weniger Fleisch ansetzen als herkömmliche Hochleistungszüchtungen.
Die Zweinutzungshühner von heute liegen in der Leistung deutlich hinter spezialisierten Rassen. „Das rentiert sich einfach nicht“, sagt Landwirt Paul Schopf. Die Kosten entscheiden letztlich das Rennen zwischen den Alternativen zum Kükentöten, egal ob In-Ovo-Technologie oder Zweinutzungshuhn. „Wenn Kunden kommen, fragen sie zuerst nach dem Preis, nicht dem Tier“, sagt Schopf. „Was kostet es? Habt ihr es da?“ Paul Schopf wirtschaftet deshalb weiterhin konventionell – so lange er noch darf.
Autoren
Lenja verzweifelte fast daran, komplexe Inhalte einfach und anschaulich zu erklären. In Zukunft stellt sie sich vor, sie müsste ihre Geschichte einer Vierjährigen erklären.
Korbinian hat festgestellt, wenn man 2.500 Küken aus ihrem Mittagsschlaf weckt, hört sich das an, als würde man einen Regenmacher umdrehen.